Im Oktober und November reiste unsere Lateinamerika-Spezialistin Livia durch Patagonien – eine Region, die sie bisher gemieden hatte. Wind und Wetter hatten sie stets abgeschreckt, doch diesmal wagte sie die Reise und kehrte begeistert zurück. Besonders beeindruckt war sie von der unberührten Natur, den endlosen Weiten, den tiefblauen Seen und den imposanten Bergmassiven mit ihren majestätischen Gletschern.
Nach der Ankunft in Balmaceda, Chile, übernahmen wir am Flughafen von Coyhaique unseren 4WD-Mietwagen. Die Vorfreude auf die bevorstehenden Abenteuer war gross. Die erste Etappe führte uns zum Lago General Carrera. Der zweitgrösste Binnensees Südamerikas, dessen türkisfarbenes Wasser in der Sonne glitzerte, bot eine Kulisse, die ihresgleichen sucht. Wir hatten ein unglaubliches Wetterglück mit strahlendblauem Himmel und viel Sonnenschein.
Die ersten zwei Nächte verbrachten wir im kleinen Dörfchen Puerto Rio Tranquilo. Der Ort entstand erst in den 50er Jahren, als sich erste Siedler in der Gegend niederliessen, um die abgelegene Wildnis wirtschaftlich zu nutzen. Die Bewohner lebten damals vor allem von der Viehzucht, der Fischerei und dem Holzeinschlag. Erst als die Nationalstrasse Chiles, die Carretera Austral, in den 1980er Jahren gebaut wurde, erhielt Puerto Rio Tranquilo eine bessere Verbindung zur Aussenwelt. An Bedeutung gewann das Dorf durch die Entdeckung der Marmorhöhlen («Capillas de Mármol»). Sie läutete den beginnenden Tourismus für die ansässige Bevölkerung ein.
Natürlich wollten auch wir diese aussergewöhnliche Marmorkapelle kennenlernen, die über die Jahrtausende durch Erosion entstanden war. Mit dem Kajak erreichten wir die faszinierenden Marmorhöhlen. Das Spiel von Licht und Schatten im Inneren war schlichtweg magisch.
Ein weiteres Abenteuer erwartete uns im Valle Exploradores. Das Ice Trekking auf dem Exploradores-Gletscher war für uns Neulinge eine rechte körperliche Herausforderung. Doch die Anstrengung wurde mit atemberaubenden Ausblicken auf die eisige Landschaft belohnt. Wir waren die einzige Reisegruppe, die auf dem Gletscher unterwegs war. Die Stille und Erhabenheit des Gletschers hinterliessen einen bleibenden Eindruck.
Die nächsten zwei Nächte verbrachten wir etwas weiter südöstlich bei Puerto Guadal in der schönen Terra Luna Lodge. Die Unterkunft liegt direkt am See. Sie ist mit ihren «Casitas», Baumhäusern, «Domes», Kuppeln, sowie einem kleinen Holzschiff zum Übernachten wirklich sehr speziell. Wir logierten in einem der Baumhäuser mit Sicht auf den See und liessen uns bei schönstem Sonnenuntergang ein Glas vorzüglichen chilenischen Wein munden.
Tags darauf lud uns die Lodge ein, den abgelegenen Leones-Gletscher zu erkunden. Dieser ist nur per Helikopter, oder bei genügendem Wasserstand mit dem Schnellboot «Patagonia Jet», erreichbar. Wir genossen einen wunderschönen Helikopter-Flug über den beeindruckenden Lago General Carrera mit den umliegenden Bergketten, Flüssen und Gletschern. Nach einer Stunde erreichten wir den abgelegenen Gletscher Leones, wo uns unser Guide Lucca bereits erwartete. Mit dem Boot konnten wir anschliessend den Gletscher von allen Seiten bestaunen. Besonders eindrücklich war das Kalben des Gletschers. Grosse Eisbrocken brachen von der Gletscherfront ab und stürzten mit Getöse ins Wasser. Das Geräusch eines kalbenden Gletschers klingt wie eine mächtige Explosion oder ein Donnerschlag – sowohl visuell als auch akustisch ein eindrucksvolles Erlebnis.
Auf dem Weg zum Nationalpark Patagonia inspizierten wir den Zusammenfluss des Rio Baker mit dem Rio Neff. Das langsame, aber kraftvolle Aufeinandertreffen der beiden Flüsse mit ihren unterschiedlichen Blau- und Grüntönen bot ein beeindruckendes Naturschauspiel.
Die Fahrt ging weiter südlich in Richtung Nationalpark Patagonia, wo wir in der exklusiven Explora Lodge übernachteten. Diese liegt im Herzen des Nationalparks und fügt sich harmonisch in die Umgebung ein. Sie legt Zeugnis ab vom Engagement von Douglas und Kristine Tompkins für den Naturschutz. Douglas Tompkins, Mitbegründer von The North Face und Esprit, wandte sich in den 1990er Jahren von der Geschäftswelt ab, um sich dem Umweltschutz zu widmen. Gemeinsam mit seiner Frau Kristine gründete er die Tompkins Conservation. Eine Organisation, die sich der Wahrung und der Wiederherstellung von Ökosystemen in Chile und Argentinien verschrieben hat. Durch ihre Bemühungen wurden Millionen Hektar Land in Nationalparks umgewandelt. Darunter auch der Nationalpark Patagonia. Die Tompkins Conservation hat nicht nur Land erhalten, sondern auch aktiv an der Wiederansiedlung bedrohter Tierarten und der Förderung nachhaltiger Gemeinschaften gearbeitet. Danke, Douglas Tompkins, dass wir und künftige Generationen dank deines Engagements diese abwechslungsreichen und wunderschönen Landschaften weiterhin erleben können. Gerne erinnere ich mich an die sanften Hügel und die schroffen Berggipfel. Wie auch an die Begegnungen mit der einheimischen Tierwelt.
Die Reise führte uns weiter nach Chile Chico, wo wir die Grenze nach Argentinien überquerten. Die Ruta 40 erstreckte sich vor uns wie eine unendliche Gerade. Die langen Fahrten durch die ausgedehnte Pampa vermittelten ein Gefühl von Freiheit und Weite.
Mein persönlicher Tipp: vorgängig gute Podcasts, Hörbücher oder Musik-Playlisten herunterladen, um die langen Fahrzeiten etwas abwechslungsreicher und spannender zu gestalten.
Die Strassenverhältnisse auf diesem Abschnitt waren recht gut. Viele andere Strassenabschnitte in Patagonien sind jedoch Schotterpisten und mit Schlaglöchern übersät. Aus Sicherheitsgründen empfehle ich darum die Miete eines robusten 4x4 Fahrzeugs.
Die Unterkünfte in der argentinischen Pampa sind oft einfacher und rustikaler als in Chile. Wir übernachteten häufig in Estancias und Cabañas. Die Gastfreundschaft und Herzlichkeit der Bevölkerung boten uns indes ein authentisches Erleben ihrer schlichten Lebensweise. Zu ihnen gehören auch die stolzen «Gauchos», die Cowboys von Argentinien.
Unterwegs auf der Ruta 40 besuchten wir die «Cueva de los Manos», eine prähistorische Stätte mit sehr interessanten Höhlenmalereien. Die dargestellten Handabdrücke und Jagdszenen erzählen Geschichten aus längst vergangenen Zeiten und gaben uns einen ausgesuchten Einblick in die Kultur der Ureinwohner.
Nach einer langen Fahrt durch die einsame Pampa erreichten wir El Chaltén im Nationalpark Los Glaciares. Das Dorf ist bekannt als das Wandermekka Argentiniens. Es begrüsste uns mit strahlendblauem Himmel und einer malerischen Bergkulisse. El Chaltén ist eine der jüngsten Städte Argentiniens. Der Besitzer unserer Hosteria erzählte uns, dass ihre Gründung im Jahr 1985 politisch motiviert war: Argentinien wollte dadurch seine Präsenz in dieser abgelegenen Region stärken, da es immer wieder Grenzstreitigkeiten mit Chile kam. Heute ist El Chaltén aber vor allem bekannt für seine berühmten Berggipfel wie den Fitz Roy, welcher von Alpinisten gerne erklommen wird.
Die diversen Wanderwege bieten jedoch auch für weniger ambitionierte wie uns Hobby-Wanderern genau das Richtige. In El Chaltén erlebten wir aber zum ersten Mal, was man immer wieder über Patagonien hört und liest: Alle vier Jahreszeiten an einem Tag. Starker Wind und Regen überraschten uns. So schätzten wir die Gemütlichkeit des Ortes mit seinen netten Cafés und Restaurants und den herzlichen Einwohnern im Trockenen.
Ein weiteres Highlight war der Besuch des bekannten Perito Moreno Gletschers bei El Calafate, nach einer etwas kürzeren Autofahrt von 3 – 4 Stunden. Die schiere Grösse und das Knacken des Eises, wenn es in den See kalbte, waren überwältigend und vermittelten die rohe Kraft der Natur. Dieses Naturschauspiel durften wir bequem von der Zuschauerplattform aus zusammen mit gefühlt 500 anderen Besuchern bestaunen. Nachmittags machten wir eine Site Inspection bei einer abgelegenen Lodge direkt am Lago Argentino. Mit Blick auf den Perito Moreno Gletscher, weit weg von jeglicher Zivilisation. Es gibt sie also hier doch auch noch, die kleinen Juwelen abseits der üblichen Touristenpfade. Nach einem ausgiebigen Erstklasse-Mittagessen zeigte uns unser Guide Juan Pablo die unberührten Wanderwege entlang des Sees rund um seine Lodge. Anschliessend genossen wir gemeinsam bei guten Gesprächen über die aktuelle argentinische Politik- und Wirtschaftslage einen Mate-Tee, ein Aufguss getrockneter und zerkleinerter Blätter der Yerba-Mate-Pflanze. Für die Argentinier ist dies mehr als nur ein Heissgetränk – es ist ein fester Bestandteil der Kultur, ein soziales Ritual und ein Symbol der Gastfreundschaft.
Langsam aber sicher verliessen wir wieder den argentinischen Teil Patagoniens. Nach dem erneuten Grenzübertritt zurück nach Chile – wobei wir darauf achten mussten, keine Lebensmittel über die Grenze mitzunehmen – erreichten wir nach rund 5 – 6 Fahrstunden den Nationalpark Torres del Paine. Unsere Unterkunft, die Morrena Lodge im Süden des Parkeingangs Serrano, bot den perfekten Ausgangspunkt für Erkundungen. Hier verbrachten wir insgesamt drei Nächte und unternahmen verschiedene Tageswanderungen.
Am ersten Tag wanderten wir zum Valle Francés. Zuerst mussten wir allerdings den Lago Pehoé mit einer Fähre überqueren. Die mittelschwere Wanderung führte durch schöne Landschaften mit türkisfarbenen Seen, dichten Wäldern und schönen 360°-Panoramaaussichten. Das Wetter war tipicamente patagonico. Wir erlebten also erneut alle vier Jahreszeiten an einem Tag.
Am folgenden Tag unternahmen wir bei strahlendem Sonnenschein die Wanderung zum Park Mirador Base Torre. Sie ist anspruchsvoll und dauert für die 18 – 20 Kilometer hin- und zurück rund 7 – 9 Stunden (je nach Tempo und Pausen), mit Höhenunterschieden von ca. 900 Metern. Die ersten Kilometer führten durch sanfte, hügelige Graslandschaften. Aber bald schon begann der steile Anstieg über Geröll zum «Paso del Viento». Um unsere Kräfte einzuteilen wechselten meine Kollegin und ich uns mit dem Tragen unseres Tagesrucksacks, gefüllt mit Proviant, Trinkflaschen und Wechselkleidern, ab. Nach einer kurzen Rast beim Refugio Chileno, führte der Weg durch dichte Wälder aus Lenga-Bäumen, bevor es dann am Ende nochmals richtig stotzig zum Mirador Base Torre hochging. Wir kamen definitiv an unsere körperlichen Grenzen. Auf dem Gipfel wurden wir jedoch mit einer unglaublichen Aussicht auf die drei Granittürme («Torres del Paine» – nach denen der Park benannt ist) und dem türkisblauen Gletschersee belohnt. Nach einer ausgiebigen Stärkung aus dem Rucksack machten wir uns auf den Rückweg. Dabei mussten wir darauf achten, den hochkraxelnden Touristen genügend Platz zu lassen – hier im Torres del Paine Nationalpark ist man auch in der Nebensaison selten allein unterwegs.
Mein persönliches Reisehighlight trug sich auf der Rückfahrt in unsere Lodge zu, als wir in weiter Ferne einen Puma erblickten – leider zeigte sich uns das scheue Raubtier nur für wenige Sekunden, bevor er wieder zwischen den Hügeln des Parks verschwand. Zu kurz für eine Foto, aber für uns ein absolut unvergesslicher Moment.
Unsere Reise führte uns weiter entlang der Carretera Austral in Richtung Süden nach Puerto Natales. Unterwegs besuchten wir die «Milodon-Höhle», eine prähistorische Stätte, die einst von riesigen Säugetieren wie dem Milodon (Riesenfaultier) oder dem Säbelzahn-Tiger und später auch von Ureinwohnern bewohnt wurde. Die Geschichten und Funde aus dieser Zeit sind faszinierend und erlaubten uns einen tiefen Einblick in die Vergangenheit.
In der Hafenstadt Punta Arenas gaben wir unseren Mietwagen ab und bereiteten uns auf das nächste Abenteuer vor: die Einschiffung auf das Expeditionskreuzfahrtschiff der Australis-Flotte.
Die 5-tägige Expeditionskreuzfahrt mit der Australis führte uns durch die imponierende Fjord- und Gletscherwelt Patagoniens. Die Route umschloss die Ainsworth Bay, die Tucker-Inseln, den Pia-Gletscher, die Allee der Gletscher und schliesslich das Kap Hoorn. Leider verhinderte starker Wind eine Landung auf Kap Hoorn, sodass wir die Insel nur vom Schiff aus bestaunen konnten.
Die mehrsprachigen Guides an Bord waren äusserst kompetent und bereicherten die Landausflüge mit ihrem Wissen und ihrem offensichtlichen Enthusiasmus. Spannende Vorträge und Präsentationen begleiteten die Abende und vertieften unser Verständnis für diese einzigartige Naturlandschaft. Das kulinarische Angebot an Bord war vielfältig und von höchster Qualität, was die Reise auch zu einem genussfreudigen Ereignis machte.
Lange Zeit hatte ich Patagonien wegen des rauen Wetters gemieden. Doch diese Reise hat mich eines Besseren belehrt, nicht nur was das Wetter anbelangt, das sich durchaus auch von der schönen und milden Seite zeigte. Die Wechsel von Sonne und Regen, begleitet von Winden, vermitteln indes auch ein authentisches Naturerlebnis. Obendrein haben mich die unberührten Landschaften, die weiten Ebenen, die imposanten Gletscher und majestätischen Berge begeistert. Hinzu kamen herzliche Begegnungen mit den Bewohnern. Schöne, meditative, aber auch physisch herausfordernde Wanderungen verstärkten bei mir das Bewusstsein für den Erhalt der noch intakt existierenden Lebensräume für Tiere und Pflanzen. Ich bin dankbar, diese Region endlich entdeckt zu haben. Manchmal lohnt es sich eben, die eigenen Vorurteile zu hinterfragen!
Oktober / November 2024